Einst fragte Zen-Schüler Callum seinen Meister: «Wie schaffe ich es, mich nicht mehr über den Egoismus meiner Mitmenschen zu ärgern?»
Der Zen-Meister antwortete: „Stell dir vor, du gehst am frühen Morgen durch einen sonnigen Park. Du spürst einen zarten Wind im Gesicht, ansonsten ist alles ruhig. Dein Blick wird von hellgrün leuchtenden Trauerweiden angezogen, deren Zweige sanft die Oberfläche eines Teiches voller Seerosen streicheln. Ein zartblauer Eisvogel gleitet über das Wasser, landet auf der Bank vor dir und stimmt sein zauberhaftes Lied an. Völlig versunken lauschst du dem Gesang des winzigen Stimmwunders. Plötzlich wirst du grob an der Schulter gerempelt.
Du starrst auf den breitschultrigen Unhold, während der Schmerz in deine Schulter schiesst. Der Vogel entflieht, Ärger flutet deinen Geist. Wie kann dieser Idiot …“
Lächelnd schaut der Zen-Meister seinen Schüler an, der verständnisvoll nickt.
Der Meister fuhr fort: „Doch dann schaust du den Übeltäter ins Gesicht und erkennst, dass seine Augen völlig weiss sind. Du durchschaust: Ich zürne einem Blinden …“
Das Nicken des Schülers endet abrupt.
„… und dein Zorn verschwindet. Dein Schmerz tritt in den Hintergrund, Mitleid über den Blinden kommt auf. Zudem scheint er sich auch weh getan zu haben. Du hörst seine Entschuldigung und winkst ab: Kein Problem, ist doch nichts passiert, ich hätte besser aufpassen sollen. Sie können doch nichts dafür…“
Der Zen-Meister beugt sich zu seinem Schüler hinab. „Wenn du erkennst, dass der Mensch blind ist, Callum, vergibst du ihm seine Schuld. Das ist der Trick, du musst dir bei einem Ärgernis sagen, dass der Mensch blind ist. Oder taub, je nachdem. Dann nimmst du den Vorfall die Schuld und kannst wesentlich leichter deinen Geist in Ruhe halten. Denn fast nie wird dir ein Mensch absichtlich Leid zufügen, er hat nur seinen eigenen Vorteil im Gewahrsein. Die bitteren Früchte seiner Tat übersieht er einfach.“
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